Geschlechtsspezifische Gewalt
Seit 2016 arbeitet JUMEN zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt. Aus der Praxis wird immer wieder berichtet, dass Frauen sexualisierte Gewalt nicht zur Anzeige bringen oder eine bereits erstattete Anzeige zurückziehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Frauen berichten u.a. von Ängsten, man werde ihnen nicht glauben, oder es könne eine Täter-Opfer-Umkehr stattfinden. Eine Rolle spielt auch die Art und Weise der Justizverfahren, in denen gewaltbetroffene Personen häufig ein zweites Mal einer Verletzung ausgesetzt werden, die zu einer Retraumatisierung führen kann.
Denn auch Gerichte sind nicht frei von Vorurteilen und vorgefassten Einstellungen, was dazu führt, dass unhinterfragt und unreflektiert Diskriminierungen und Stereotype verfestigt werden. Bis heute sind strafrechtliche Verfahren zu sexualisierter Gewalt in Deutschland gespickt mit Genderstereotypen und Vergewaltigungsmythen, die den gleichen Zugang zum Recht verhindern.
Um eine Perpetuierung der Gewalt zu verhindern und die Gewaltspirale zu unterbrechen, ist es essentiell, Vorurteile und Zuschreibungen aufgrund des Geschlechts aufzubrechen. Frauen müssen sich in Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt auf ein Justizsystem verlassen können, das vorurteilsfrei handelt.
Gewaltbetroffene Frauen zu unterstützen, statt ihnen den juristischen Weg zu erschweren, ist Voraussetzung für eine geschlechtergerechte Gesellschaft.
Mit den menschenrechtlichen Interventionen und strategischer Prozessführung arbeitet JUMEN am Erreichen dieses Ziels mit.
Die Projektphasen:
1. Problemanalyse: Prozessbeobachtung
Um uns dem Thema zu nähern, begannen wir das Projekt mit einem Praxis-Workshop mit Rechtsanwält*innen, psychosozialen Prozessbegleiter*innen und Sozialarbeiter*innen. Darauf aufbauend haben wir mit zwei Studierenden der Humboldt Law Clinic Grund- und Menschenrechte (HLCMR) und dem bff – Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe zwei Sexualstrafverfahren vor Gericht in Berlin beobachtet und dokumentiert, an welchen konkreten Momenten der Verfahren Vorurteile und Frauen diskriminierende Stereotype auftraten. Die Dokumentation haben wir im Anschluss mit den Studierenden ausgewertet. Während der Prozessbeobachtung zeigte sich, wie klassische Vorstellung und Idealtype zum vermeintlich richtigen Verhalten von Frauen im Prozess eine Rolle spielen. Vorgefasste Einstellungen zum Beispiel zu „angemessener“ Kleidung, ihrem sexuellen Vorleben oder wie Frauen auf Gewalt zu reagieren haben, wurden im Prozess offenbar.
Artikel 1 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
2. Menschenrechtliche Analyse: Bewertung von Genderstereotypen in Sexualstrafverfahren
In einem zweiten Schritt haben wir mit zwei Studierenden der HLCMR und in Kooperation mit dem bff die völkerrechtlichen Grundlagen zu dem Thema analysiert. Der Fokus lag dabei auf der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), der Konvention des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). Daneben haben wir ausgewählte Rechtsprechung des CEDAW-Ausschusses und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) analysiert, die Aussagen zu Genderstereotypen in der Justiz treffen.
Sowohl CEDAW, als auch die Istanbul-Konvention halten hilfreiche rechtliche Argumentationen bereit, um Genderstereotypisierungen in Sexualstrafverfahren als Menschenrechtsverletzungen einzuordnen.
Artikel 15 Absatz 1 Istanbul-Konvention
Die Vertragsparteien schaffen für Angehörige der Berufsgruppen, die mit Opfern oder Tätern von […] Gewalttaten [gegen Frauen] zu tun haben, ein Angebot an geeigneten Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zur Verhütung und Aufdeckung solcher Gewalt, zur Gleichstellung von Frauen und Männern, zu den Bedürfnissen und Rechten der Opfer sowie zu Wegen zur Verhinderung der sekundären Viktimisierung […].
3. Lösungsansätze: Aus- und Fortbildung von Strafrichter*innen in Deutschland
Problemanalyse und der juristischen Ausarbeitung konzentrierten wir uns auf mögliche Lösungsansätze. Der Fokus lag dabei auf dem Thema Aus- und Fortbildung von Strafrichter*innen in Deutschland zum Thema Gewalt gegen Frauen.
Zwei Studierende der HLCMR erarbeiteten dazu mit Unterstützung von JUMEN ein Paper, das aufzeigt, welches Wissen wichtig ist, um Genderstereotypisierung in Sexualstrafverfahren zu vermeiden und warum das menschenrechtlich geboten ist.
4. Unterstützung der Nebenklage: Handreichungen
Im aktuellen Projekt „Unterstützung der Nebenklage durch Handreichungen“ knüpfen wir an unsere vorherigen Beobachtungen und Analysen zu Genderstereotypen und Vergewaltigungsmythen in Sexualstrafverfahren an. Basierend auf unseren Ausarbeitungen richten wir unseren Fokus nach der Strafrichter*innenschaft nun auf die Nebenklage. Hier stellt sich die Frage, wie die Nebenklagevertretung Genderstereotypen, die Einfluss auf das Verfahren zu nehmen drohen, wirksam entgegenwirken kann. Ziel ist es, auch aus der Perspektive der Anwält*innenschaft eine effektive Herangehensweise an die Bekämpfung von Genderstereotypen in Sexualstrafverfahren auszuarbeiten.
In Zusammenarbeit mit Studierenden der HLCMR und Kooperationsanwält*innen werden zurzeit Handreichungen für die Nebenklagevertretung entwickelt. Mit konkreten Bezügen zum Strafprozessrecht und internationalen Vorgaben, wie der Istanbul-Konvention und der UN-Frauenrechtskonvention (CEDAW), sollen diese Handreichungen als Argumentationsgrundlage und Hilfestellung in Prozessen dienen, wenn Genderstereotype und Vergewaltigungsmythen vorgebracht werden und drohen die Prozesse zu beeinflussen. Die Handreichungen sollen damit in der Praxis direkte Anwendung finden und für die Nebenklagevertretung ein effektives Instrument darstellen.
5. Strategische Prozessführung: Femizide in Deutschland
Aktuell arbeiten wir außerdem – aufbauend auf unserer bisherigen Arbeit – zu dem Thema Femizide. Im Rahmen dessen prüfen wir die Möglichkeit, staatliches pflichtwidriges Unterlassen im Vorfeld eines Femizides gerichtlich feststellen zu lassen und somit staatliche Stellen in die Pflicht zu nehmen.
Femizide sind Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, d.h. Frauen werden getötet, weil sie Frauen sind. In Deutschland ist durchschnittlich jeden Tag eine Frau von einem versuchten oder vollendeten Tötungsdelikt durch ihren Partner oder Ex-Partner betroffen. Jeden dritten Tag stirbt dabei eine Frau. Besonders gefährdet sind Frauen dabei in Trennungssituationen. Solche Trennungstötungen sind als Femizide einzuordnen. Die Täter gestehen dabei den Frauen nicht zu, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sodass die Taten Ausdruck eines patriarchalen Besitzanspruchs sind.
Wir setzen uns aktuell mit juristischen Handlungsoptionen auseinander und entwickeln Strategien, um Deutschland in die Pflicht zu nehmen. Denn Deutschland ist verpflichtet, Femizide zu verhindern und die dafür erforderlichen Maßnahmen vorzunehmen.
Illustration von Kinga Darsow im Rahmen des Projekts „Geschichten mit Wirkung“ ©Kinga Darsow
„Expert*innen aus der Beratungspraxis in Deutschland berichten immer wieder, dass Opferzeuginnen häufig das Gefühl haben, als Beschuldigte wahrgenommen zu werden. Statt das Verhalten des Täters zu untersuchen, werde die Verantwortung bei den Opferzeuginnen gesucht.“
Das Hilfetelefon – Beratung und Hilfe für Frauen
Leider können wir keine Beratung oder juristische Vertretung im Einzelfall anbieten. Wenn Sie Unterstützung oder Beratung benötigen, können Sie sich an das Hilfetelefon wenden.
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Nummer 116 016 und via Online-Beratung unterstützt das Hilfetelefon Betroffene aller Nationalitäten, mit und ohne Behinderung – 365 Tage im Jahr, rund um die Uhr. Auch Angehörige, Freundinnen und Freunde sowie Fachkräfte werden anonym und kostenfrei beraten.