Familiennachzug seit August 2018
Seit August 2018 analysieren wir die Praxis des neuen Visumsverfahrens beim Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten.
Wir begleiten Fälle vor Gericht und den Behörden und prüfen die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte. Es handelt sich zumeist um Familien, bei denen eine Einreise nicht möglich ist, weil die Kinder, die nachziehen wollen oder die auf ihre Eltern warten, während der Aussetzung volljährig geworden sind (Fall 8 und Fall 9).
Das Fazit ist bitter: Grundgesetz, Europäische Menschenrechtskonvention, EU-Grundrechte-Charta und UN-Kinderrechtskonvention werden durch die Neuregelung des § 36a AufenthG verletzt. Die Familien werden von den jahrelangen Wartezeiten bei den Botschaften zermürbt.
Ein Kurzgutachten von JUMEN und terres des hommes von Oktober 2022 findet sich unter: Kurzgutachten „Familiennachzug rechtssicher, human und gerecht gestalten – Koalitionsvertrag umsetzen“
Unser Positionspapier von Mai 2022 zur Umsetzung der im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung angekündigten Verbesserungen für den Familiennachzug findet sich unter: „JUMEN-Positionspapier – Forderungen und Formulierungsvorschlag für das neue Gesetz zum Familiennachzug für alle Geflüchteten“
Ein ausführliches rechtliches Gutachten von JUMEN und Pro Asyl findet sich unter: „Zerrissene Familien – Praxisbericht und Rechtsgutachten zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten“ (März 2021)
Die Kontingentregelung – Familiennachzug wird verhindert
Am 1. August 2018 trat nach zweijähriger Aussetzung ein neues Gesetz für den Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten (Gesetz zur Neuregelung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten) in Kraft. Damit wurden subsidiär Schutzberechtigte und ihre Familien schlechter gestellt als vor der Aussetzung. Danach gibt es keinen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung, sondern nur noch das Kontingent von 1.000 Personen pro Monat, welches nach humanitären Gründen ausgewählt werden soll. Humanitäre Gründe sind nach dem Gesetz die Dauer der Trennung, Minderjährigkeit, Gefährdung und schwerwiegende Erkrankung oder Pflegebedürftigkeit. Das Kindeswohl soll besonders berücksichtigt werden. Negativen Einfluss auf die Entscheidungen haben Straftaten. Eine „gute Integrationsleistung“ soll belohnt werden.
Seit August 2018 wurden insgesamt nur 19.056 Familiennachzugsvisa erteilt. Aktuell liegen noch für 11.400 Personen entsprechende Terminanfragen vor. Rechnet man dies zusammen beträgt die aktuelle Zahl nur ein Zehntel der damaligen Prognose. Der heutige Bundesinnenminister Horst Seehofer hatte in den Koalitionsverhandlungen mit der SPD Anfang 2018 gewarnt, bis zu 300.000 Angehörige würden nach Deutschland kommen wollen, wenn der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wieder ermöglicht würde.
Im gesamten Jahr 2020 wurden statt 12.000 möglichen nur 5.311 Visa weltweit an Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten durch die deutschen Botschaften erteilt, also 44,2 % des festgelegten 1.000er Kontingents. In den 29 Monaten seit Beginn der Neuregelung wurden statt der zugesagten 29.000 Visa nur 19.056 Visa erteilt, das sind 65,7%.
Gerichtliche Kontrolle der neuen Regelung kaum möglich
Oftmals werden kaum mehr als 1.000 Anträge im Monat von den deutschen Auslandsvertretungen an die Ausländerbehörden in Deutschland weitergeleitet. Das Auswärtige Amt deckelt die Terminsvergabe und schafft hier einen Flaschenhals. Damit werden die Verfahren verzögert und das Bundesverwaltungsamt musste noch nie Fälle wegen des Kontingents ablehnen. Auch kann nur klagen, wessen Antrag bearbeitet und dann abgelehnt wurde. Die Fälle, die mit ihren Anträgen nie durchkommen oder in Warteschleifen hängen, kommen nicht ohne Weiteres vor das zuständige Verwaltungsgericht Berlin.
JUMEN hat bereits die Möglichkeit einer Untätigkeitsklage geprüft, nur aufgrund der aktuellen Corona-Pandemie, welche ebenso dazu führt, dass Anträge nicht bearbeitet werden können, sind die Erfolgschancen aktuell vor Gericht eher gering. Denn das Auswärtige Amt kann sich darauf berufen, die Verzögerung beruhe im konkreten Fall allein auf der Schließung der Botschaften während der Pandemie. Dennoch: Die Zahlen belegen, dass bereits vor der Pandemie das Verfahren verschleppt wurde.
Lange Wartezeiten, fehlende Priorisierung
Der Antragstellung bei den Auslandsvertretungen gehen Wartezeiten für Termine, um vorsprechen zu dürfen, von 12 bis 18 Monaten voraus. Danach sind die Ausländerbehörden am Zug – viele blockieren durch, im Gesetz nicht vorgesehene, Prüfanforderungen. Beispielsweise wird in der Praxis oft der Wohnraumnachweis oder die Lebensunterhaltssicherung gefordert, welche ausdrücklich keine Voraussetzung sein sollen. Darüber hinaus ist das Verfahren vom Auswärtigen Amt so organisiert, dass weder bei den Botschaften, noch bei den Ausländerbehörden, noch beim Bundesverwaltungsamt eine Priorisierung von besonderer Härte stattfindet. Das bedeutet, die aufwändigen und zeitraubenden Prüfungen von Integrationsaspekten oder humanitären Gründen wird am Ende gar nicht gebraucht und ist redundant. Durch das Nichtpriorisieren wird zudem Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention verletzt, weil Kinder nicht bevorzug berücksichtigt werden.
Verstöße gegen Grund- und Menschenrechte
Die Begrenzung auf das 1.000er Kontingent ebenso wie das nicht ausgeschöpfte Kontingent sowie die erheblichen Wartezeiten verstoßen gegen das Recht auf Familienleben in Art. 6 GG und in Art. 8 EMRK.
Das Kindeswohl gem. Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention wird mangels fehlender Priorisierung nicht berücksichtigt.
Die unterschiedlichen Regelungen für Menschen mit Anerkennung nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK-Flüchtlinge) und subsidiär Schutzberechtigte verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes, der EU-Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es gibt keinen Grund, politisch Verfolgte aus Syrien anders zu behandeln, als vor Folter, Todesstrafe oder unmenschlicher Behandlung durch das Assad-Regime Geflohene. Beide Gruppen können auf unbestimmte Dauer nicht in das Herkunftsland zurück.
Volljährig während der Aussetzung – und jetzt?
Familien, deren Kinder während der Aussetzung des Familiennachzugs volljährig wurden, sind nach der aktuellen Behördenpraxis von der neuen Regelung ausgeschlossen. Das gilt sowohl für den Elternnachzug als auch für den Kindernachzug. Das Auswärtige Amt argumentiert damit, dass es im Zeitpunkt, als die Kinder den Antrag stellten und später volljährig wurden, das neue Gesetz noch gar nicht gab, und sie sich jetzt nicht mehr darauf berufen können. Doch selbst wenn die Neuregelung bereits in Kraft war, stellt das Auswärtige Amt beim Elternnachzug, anders als beim Kindernachzug nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung ab, sondern auf den Zeitpunkt des Eintritts der Volljährigkeit. Wessen Eltern bis dahin nicht einreisen, die verlieren ihr Recht auf Familiennachzug. Aus Sicht von JUMEN verstößt diese Auffassung klar gegen Art. 6 GG, Art. 8 EMRK, Art. 24 EU-Grundrechte-Charta sowie Art. 3 UN-Kinderrechtskonvention. Hierüber wird das Bundesverwaltungsgericht entscheiden müssen, denn zu der Neuregelung, welche nur eine Ermessensregelung darstellt, hat es sich bisher noch nie geäußert. Klärungsbedürftig ist ebenfalls, ob die EuGH-Rechtsprechung, wonach beim Elternnachzug zu GFK-Anerkannten auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen ist (vgl. EuGH, Urt. v. 12.04.2018, C‑550/16), übertragbar ist.
Hierzu begleiten wir Familien und ihre Anwält*innen in ausgewählten Einzelfällen vor Gericht (Fall 8 und Fall 9).
Links:
- Kurzgutachten „Familiennachzug rechtssicher, human und gerecht gestalten – Koalitionsvertrag umsetzen“ von JUMEN und terre des hommes zum Familiennachzug von Oktober 2022
- „JUMEN-Positionspapier – Forderungen und Formulierungsvorschlag für das neue Gesetz zum Familiennachzug für alle Geflüchteten“ von Mai 2022
- Sigrun Krause, Daniel Kamiab-Hesari, Daniel Weber, Danial Haschem, Karim Alwasiti, Zerrissene Familien – Praxisbericht und Rechtsgutachten zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, Gutachten von PRO ASYL und JUMEN vom 12. März 2021
- Sigrun Krause, Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten – eine Rechtsprechungsübersicht zu § 36a AufenthG, in: Asylmagazin, 6–7/2020, S. 189–214
- Adriana Kessler: Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten. Zur Umsetzung der gesetzlichen Beschränkung – ein Jahr nach der Neuregelung, in: Asylmagazin 8–9/2019, S. 295–299
- Cana Mungan, Sebastian Muy und Daniel Weber, Familientrennung auf Dauer? Die Neuregelung zum Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten, in: Asylmagazin 12/2018, S. 406–415